Ende einer Ära

Der SV Wehen Wiesbaden hat sich von Cheftrainer Rüdiger Rehm getrennt. Man sei „nicht mehr davon überzeugt, in der jetzigen Konstellation unsere sportlichen Ziele zu erreichen“, wird der Sportliche Leiter Paul Fernie in der Mitteilung des Vereins zitiert. Interimsweise übernehmen die Co-Trainer Mike Krannich und Nils Döring.

Als Rehm im Februar 2017 gemeinsam mit Krannich die Arbeit beim SVWW aufnahm, stand der Verein schon wieder auf einem Abstiegsplatz, nachdem man erst ein halbes Jahr zuvor im dramatischsten aller letzten Spieltage den Absturz in die Regionalliga abwenden konnte. Ab dem ersten Tag ging es aufwärts, die Mannschaft gewann wieder Spiele, auch dank Manuel Schäffler, der sich unter Rehm zu einem Torjäger par excellence entwickelte. Am Ende der ersten Saison landete man auf dem 7. Platz und gewann den Hessenpokal, womit man sich nach dreijähriger Pause wieder für den DFB-Pokal qualifizierte – und seitdem auch in jeder Saison erneut teilnahm. In der ersten vollständigen Saison unter Rehm wurde der SVWW zu einem Aufstiegskandidaten und verpasste die ersehnte Rückkehr in die 2. Bundesliga am Ende nur knapp. Der große Wurf gelang dann in der nächsten Saison, per Relegation stieg man nach zehn Jahren wieder auf. Mit einem Rekordsieg im Finale gab es einen weiteren Hessenpokaltitel als Bonus. Der Start in die Zweitligasaison ging gehörig daneben, nach sieben Spielen hatte Wehen erst einen einzigen Punkt geholt. Um die Gegentorflut einzudämmen, sprang Rehm über seinen taktischen Schatten und setzte auf eine Fünferabwehrkette, mit der man zwar nicht unbedingt schönen Fußball spielte, aber doch zu punkten begann und sogar realistische Chancen auf den Klassenerhalt hatte. Der gelang zwar letztlich nicht, aber trotz des Abstiegs hielt der Verein am Trainer fest und wollte mit Rehm den erneuten Sprung in die 2. Bundesliga schaffen. Nach einem kompletten Kaderumbruch mangelte es aber die ganze Saison über an Konstanz und man musste sich vorzeitig aus dem Aufstiegsrennen verabschieden, holte dafür jedoch ein weiteres Mal den Hessenpokal. Die aktuelle Saison stellt sich ziemlich ähnlich dar, so richtig kam man noch nicht ins Rollen.

Nach mehr als viereinhalb Jahren und fast 200 Pflichtspielen – beides Vereinsrekorde – ist es sicher nicht übertrieben zu sagen, dass eine Ära endet, in die einige der großartigsten Momente der Clubgeschichte fielen. Auch im Vergleich mit anderen Proficlubs war das eine außergewöhnlich lange Zeit, nur Freiburgs Christian Streich und Heidenheims Frank Schmidt sind von allen aktuellen Trainern der ersten drei Ligen länger im Amt.

Was hat den Verein nun bewogen, Rehm das Vertrauen zu entziehen? Offenbar glaubte man nicht mehr an eine anhaltende positive Entwicklung. Zu wechselhaft waren die Leistungen und in letzter Zeit zeigten die Ausschläge immer öfter nach unten. Auch in meinem sicherlich eher gemäßigten Umfeld wurde der Trainer zuletzt in Frage gestellt und auch ich selbst, der ich quasi ab Tag 1 großer Rehm-Fan war, habe mich nach dem vergangenen Samstag beim Gedanken ertappt, ob nicht vielleicht doch irgendwann mal ein Wechsel notwendig sei. Dass das tatsächlich so schnell passieren würde, kam allerdings sehr überraschend, stand Rehms Position schließlich in seiner gesamten Amtszeit nie (öffentlich) zur Debatte.

Hätte man in Anbetracht seiner Verdienste länger an Rehm festhalten können oder müssen, schließlich ist man nur wenige Punkte hinter den Aufstiegsplätzen? Klar hätte man können und vielleicht hätte sich das Team endlich stabilisiert und in der Rückrunde groß aufgespielt. Vielleicht hätte sich aber auch der Negativtrend fortgesetzt und bis zur Winterpause stünde man auf einem Abstiegsplatz – und würde sich dann fragen, warum man nicht früher reagiert habe, als noch genug Zeit war, um mehr als nur einen Mittelfeldplatz zu erreichen. Beides ist natürlich völlig hypothetisch und wir werden es auch nie mehr erfahren. Es hat den SV Wehen Wiesbaden in den letzten Jahren ausgezeichnet, dass man auch in schwierigen Phasen nicht die Nerven verlor und den Trainer seine Arbeit machen ließ – und genau deshalb glaube ich, dass die Entlassung keine Kurzschlusshandlung, sondern Ergebnis einer gründlichen Analyse ist. Nüchtern betrachtet hat es seit mindestens anderthalb Jahre keine wirkliche spielerische Entwicklung mehr gegeben. Als Angriffsstrategien gibt es das schnelle Umschaltspiel oder den langen Ball auf den Mittelstürmer, ob der jetzt nun Schäffler, Tietz, Nilsson oder Iredale heißt. An guten Tagen kommt man so zu zahlreichen Chancen, an schlechten zu keinen, und in der Defensive gilt das genauso umgekehrt. Natürlich ist es bei der großen Fluktuation im Kader zu jeder Saison schwierig bis unmöglich, ein System über mehrere Jahre zu entwickeln, aber nach einem Drittel der Saison sollten doch gewisse Fortschritte erkennbar werden, zumindest wenn man den Anspruch hat, um die vorderen Plätze mitzuspielen. Der Trainer ist aber ganz sicher nicht allein verantwortlich, schließlich muss er mit den Spielern arbeiten, die im Regelfall von der sportlichen Leitung verpflichtet wurden. Da waren in den letzten Jahren natürlich einige Treffer dabei, die man dann jedoch meist nicht lange halten konnte, aber andererseits gab es auch die eine oder andere Verpflichtung, die sich nicht unbedingt als Glücksgriff herausstellen sollte. Das war schon unter Hock so und die Zwischenbilanz nach Fernies erstem Transfersommer ist nach meinem Dafürhalten auch bestenfalls gemischt, aber vielleicht blühen ja manche Spieler nun auf, wer weiß.

Rein sportlich betrachtet kann ich einem Trainerwechsel also schon etwas abgewinnen, menschlich ist Rehms Abschied definitiv ein Verlust. Im Laufe der Jahre (zumindest vor Corona) durfte ich mich einige Male mit ihm unterhalten, ob im Podcast-Interview, beim Kabinentalk, im Rahmen von Pressekonferenzen oder bei Fantreffen, stets konnte man sich ganz ungezwungen austauschen. Einfach ein guter Typ, den ich sehr vermissen werde. Vielen Dank für alles, Rüdi, mach’s gut!

Beitragsbild: Sonja Riegel